MUST HAVE für die Versicherungsbranche: Frauen

Eine Branche zwischen Wunsch und Wirklichkeit
von Ute Geishauser (DO/D) und Sabrina Kraft

Die Vorteile von Geschlechtervielfalt in Unternehmen sind allseits bekannt: Die Problemlösungskompetenz, das Organisationswissen sowie die Qualität im Kundenservice und die Mitarbeiterbindung steigen mit mehr Diversität. Die Realität in der Branche – im Außendienst und durchweg auf den oberen Führungsebenen im Innen- und Außendienst – sieht heute noch anders aus. Oft stehen bei allen Beteiligten nach wie vor überholte Glaubenssätze im Weg. Zur langfristigen Bindung und erfolgreichen Weiterentwicklung von Mitarbeiter:innen bedarf es ganzheitlicher Konzepte – bereits in der Onboarding-Phase.

Unterrepräsentanz von Frauen in den einzelnen Führungsebenen

In ihrer Bachelor-Arbeit hat Fabienne Wolf, R+V, die Ursachen für „die Unterrepräsentanz von Frauen in mittleren bis oberen Führungsebenen der Versicherungsbranche“ untersucht und auch erste Handlungsempfehlungen abgeleitet. Verglichen mit dem Durchschnitt aller Branchen hat die Versicherungsbranche enormen Nachholbedarf – und dass, obwohl die Hochschulen hälftig mit Frauen besetzt sind. Noch immer ist zu beobachten, je höher die Führungsebene, desto stärker ist die sogenannte „gläserne Decke“ vorhanden. Während im Innendienst der Anteil der Frauen auf den einzelnen Führungsebenen 28,9 % beträgt, liegt der Wert im Außendienst bei nur 11,9  %. Auf der Führungsebene eins sind es 15,3 % gegenüber 3,9 %, und dies stagniert sogar seit Jahren (1). So wurde 2017 aus der gemeinsamen Überzeugung einiger weiblicher Führungskräfte der Versicherungsbranche heraus, dass Karriere nicht vom Geschlecht abhängt, der Arbeitskreis „Frauen & Führung“ innerhalb des VGA – Bundesverband der Assekuranzfachkräfte e.V. – gegründet. Der Arbeitskreis hat das Ziel, mit engagierten Frauen die Zukunft der Branche wettbewerbsstark und zukunftssicher zu gestalten.

In den Außendienst kommen Bewerberinnen bestenfalls über Empfehlung

Prof. Dr. Jürgen Hilp, DHWB Heidenheim, berichtet im VGA-Interview (2), dass duale Student:innen den Weg in den Vertrieb meist erst durch die Empfehlung von Freunden und Verwandten, die gute Erfahrungen mit der Branche gesammelt haben, finden. Und das, obwohl der Vertrieb den Absolvent:innen nachweislich langfristig erhebliche Karrieremöglichkeiten bietet, sinnstiftend ist und viel Flexibilität bietet.

Häufig trifft das Unterbewusstsein unsere Entscheidungen

Auch wenn wir alle noch so sehr bemüht sind, professionelle Berufs- und Personal-Entscheidungen frei von Vorurteilen zu treffen, werden wir von unbewussten Vorurteilen – sogenannten „kognitiven Verzerrungen“ – beeinflusst. Oft ist es schwierig, die erlernten Annahmen, Überzeugungen, Glaubenssätze oder Einstellungen in unserem Unterbewusstsein zu erkennen und sich davon zu lösen.

Welchen Einfluss hat unser „Unconscious Bias“
…auf die Berufswahl

Wenn auch größtenteils aus heutiger Sicht unberechtigt, ist in vielen Köpfen das Berufsbild des Außendienstes immer noch negativ behaftet, und die Vorurteile gegenüber dem Beruf der Vermittler:innen halten sich hartnäckig. Auch bei gleichem Ausbildungsstand trauen sich viele Frauen – häufig unbegründeter Weise – seltener als männliche Kollegen die Außendienst-Rolle zu.

… und auf Arbeitgeber:innen

Auch heute noch wird nachweislich Frauen in vielen Berufsbildern weniger zugetraut.

Im Expertengespräch (3) des VGA wird deutlich, dass Frauen in Führungspositionen mehr Zeit benötigen, da die Sorge, sich den Vertrieb nicht zuzutrauen, einfach häufig vorhanden ist. Es braucht Multiplikatoren, Umdenken und eine positive Grundhaltung zu dem Berufsbild, um alte Vorurteile abzubauen. Zudem sind oft die vielfältigen Möglichkeiten im Vertrieb nicht bekannt.

Lisa Maria Weber, Abteilungsleiterin AO-Vertrieb Coaching & Training, leitet das aktuelle Projekt „Frauen im AO-Vertrieb“ der Provinzial Holding: „Wir sind daran interessiert, die Stereotypen in den Köpfen der Führung, der Mitarbeitenden und selbstständigen Unternehmer in Bezug auf die Geschlechterrollen sowie die Zuschreibungen im Berufskontext zu verändern.“

Hemmschwelle Selbstständigkeit im Vertrieb

Das Negativimage vergangener Jahre, oft falsche Vorstellungen über die Tätigkeit, gepaart mit dem Risiko einer Selbstständigkeit, schrecken vor dem Einstieg in den Versicherungsvertrieb ab. Franziska Beitel hat sich nach dem dualen Studium und dem Praktikum in allen Bereichen des ausbildenden Unternehmens gegen die AO (Ausschließlichkeitsvertrieb) entschieden und ist nun erfolgreich als angestellte KV-Spezialistin im Einsatz. Für den Einstieg in die AO mit kleinem und unbekanntem Kundenbestand, hohen Zielvorgaben und der parallel laufenden fachlichen Ausbildung hätte sie sich mehr Zeit gewünscht, um „anzukommen“. Die Vorstellung, als Selbstständige einmal eine Familie zu gründen, war ein weiterer Auslöser für ihre Entscheidung in Richtung Festanstellung (2).

Ute Geishauser
Business Coach und Beraterin, Mentorin für weibliche Führungs(nachwuchs)kräfte in der Versicherungsbranche

Sabrina Kraft
Business Coach und Mentorin, Expertin für Carreer Familiy Design und Emotional Benefits

Was können Versicherer tun, um mehr Frauen für den Vertrieb zu begeistern?
Zur Imagestärkung:
  • die Zukunftsfähigkeit der Branche mit ihren sinnstiftenden Aufgaben bereits in Schulen und auf Jobmessen klarer herausstellen
  • familienfreundliches Employer-Branding aufbauen
  • die Arbeitsinhalte der Tätigkeit übersetzen: Vertrieb unterstützt den Kunden bei schweren Entscheidungen, in Notlagen und bei der Planung für die nächsten Lebensphasen
  • mehr Werbung für attraktive Trainee-Programme
  • die zeitliche wie organisationale Flexibilität herausstellen
  • Hinweise auf überproportionale Verdienstmöglichkeiten
Im Recruiting:

Familienfreundlichkeit ist die Employer-Branding-Strategie unserer Zeit. Die USA, UK und Skandinavien machen es vor. Verbindung von Karriere und Familie muss da beginnen, wo die Mitarbeiter:innen sich befinden, wenn sie in Gedanken in die Frage der Familienplanung gehen, denn Familienplanung ist gleichzeitig auch Karriereplanung. Mitarbeiter:innen in der emotionalsten Lebensphase intensiv zu unterstützen und dies bereits im Recruiting-Prozess herauszustellen, hebt ab! Der Obstkorb und die Sportförderung waren gestern. Was qualifizierte Frauen anzieht und bindet, sind emotionale Benefits und das Vertrauen, sich in jede Richtung zu entwickeln und ihr ganz persönliches Work-Family-Modell leben zu können.

In der Einarbeitung und Zusammenarbeit:
  • Neuen Mitarbeiter:innen Zeit geben und ankommen lassen
  • individuelles Coaching (fachlich, persönlich und verkäuferisch)
  • Angebot von Mentoring-Programmen
  • Aufzeigen von Entscheidungsmöglichkeiten zwischen Führungs-, Spezialistentätigkeit und Unternehmertum
  • Förderung der Vernetzung mit Kolleg:innen
  • Potenzial-Erkennung und -Förderung
  • ein Agentur-Team, das den Rücken stärkt
Mentoring als weiterer Erfolgsfaktor

In Episode 3 des VGA-Podcasts (2) berichten erfolgreiche Vertrieblerinnen, wie hilfreich es war, beim Einstieg in den Job eine Mentorin an ihrer Seite gehabt zu haben, die ihnen das Gefühl vermittelt hat, der Aufgabe gewachsen zu sein. Oft übernehmen diese so geförderten Frauen im Anschluss auch gerne diese Aufgabe für nachfolgende Kolleginnen. Ninette Quest von der Württembergischen gibt zu bedenken, dass es in der Praxis Mentoring leider doch nur in Einzelfällen gibt.

Wenn wir es als Branche mit dem Ziel „mehr Frauen in Führungspositionen“ ernst meinen, dann darf das Mentoring nicht nur auf einzelnen, ehrenamtlichen Schultern lasten. Dies wäre ein Widerspruch in sich, wenn ausschließlich Frauen unternehmensintern, unbezahlt und zeitlich on top diesen Aufwand stemmen sollten. Die künftigen Begleitungen erfordern quantitativ wie qualitativ zusätzlichen Einsatz. Deshalb bedarf es neben internen Role-Models umfassender, professionalisierter Mentoringprogramme, die sowohl die Individualität jeder einzelnen Frau als auch die übergreifenden Erfahrungswerte bezüglich der Herausforderungen – die alle Frauen betreffen – berücksichtigen. Moderne Mentoringprogramme unterstützen die Teilnehmerinnen auf deren „Entwicklungsreise“ und moderieren die strukturierte Vernetzung und Verbindung mit Gleichgesinnten. Denn zur (gegenseitigen) Stärkung des individuellen, wellenförmig verlaufenden Transformationsprozesses sind nicht nur Mentor:innen, sondern auch Weggefährtinnen/Verbündete von enormer Bedeutung.

Auch Ruben Langwara, Experte für Emotionen, emotionale Intelligenz und Empathie in Unternehmen sowie Autor des Fachbuches „Die Kraft unserer Emotionen“ (2022 Junfermann Verlag) sagt Folgendes: „Eine integrative und somit zukunftsfähige Arbeitskultur nimmt Frauen auf und gibt ihnen das, was sie brauchen, um mit Zuversicht und Zielstrebigkeit – ja sogar Begeisterung – beruflich zu wachsen und neue Herausforderungen anzugehen. Dazu müssen Arbeitgeber*innen eine Kultur schaffen, die Frauen hilft, sich – auch im Zuge von Familienplanung – zu integrieren, ihre Identität zu behaupten und neue Visionen für die berufliche Entwicklung zu entwerfen. Authentische Wertschätzung – durch werteorientierte Kommunikation, wie auch gelebte Unterstützung durch Coaching und Mentoringprogramme – kommt in Form einer gestärkten Mitarbeiter*innenbindung, erhöhter Zufriedenheit und somit weniger Fluktuation und höherer Motivation im Team als Return on Invest zurück.“

Roxanna Senft:
Alles ist machbar, aber nicht alleine!

Die Aussage ihres damaligen Vorgesetzten „Du kannst alles in der Aufgabe lernen“ hat Roxanna Senft 2012 ermutigt, sich als Außendienstleiterin in der absoluten Männerdomäne zu bewerben. Heute führt die 40-jährige 21 Mitarbeiter:innen, 123 Agenturen, ist beim LVM für 124 Mio. € verantwortlich und ermutigt als Mentorin ihre Kolleginnen zu diesem Karriereschritt. Aus ihrer Sicht muss die Kombination aus Vollzeitarbeiten als Führungskraft und Mutter-Sein (sie selbst hat zwei Kinder) nicht „Mission Impossible“ sein, „wenn Väter mit anpacken, Vorgesetzte an Dich glauben und es ein gutes Netzwerk gibt“. Ihr Erfolgs-Tipp für mehr Frauen in der AO: „Beim LVM werden angehende Vermittler:innen auf ihrem Weg in die Selbstständigkeit nicht nur durch Sparten-Spezialist:innen unterstützt, sondern seit einiger Zeit auch durch erfahrende Kolleg:innen in der Rolle „Verkaufs-DBA“. Neben einer angemessenen Einarbeitungszeit plädiere ich zudem für die Zahlung eines „Elterngelds“ für selbstständige Vermittler:innen.“

Dr. Monika Sebold-Bender:
Frauen sollten ihr Netzwerk ausbauen

„Aus meiner Sicht investieren in der deutschen Versicherungsbranche auch heute noch zu wenige Frauen in Netzwerkbildung. Bis in die Vorstandsetagen unterschätzen Frauen leider immer noch die Macht des Netzwerkens. Unsere europäischen Nachbarinnen – und erstaunlicherweise sogar Kolleginnen aus dem arabischen Raum – sind da bereits wesentlich besser aufgestellt.“

Aus diesem Grunde wurde der vor zehn Jahren in London ins Leben gerufene „Insurance Supper Club“ vor zwei Jahren durch Chantal Schumacher (GenCEO) auch in Deutschland etabliert. Heute führen Christine Kaaz (Chief Underwriting Officer ERGO GROUP) und Bettina Dietsche (Chief HR Officer Allianz) dieses Netzwerk.

Anne Balendonck:
Hybrides und flexibles Arbeiten ist unabdingbar

Nach ihrer Ausbildung hat Anne Balendock Versicherungswesen studiert und zuletzt in einem größeren Versicherungsunternehmen in Vollzeit gearbeitet. Noch während der letzten Elternzeit hat Anne den Kontakt zur STC-Gruppe gefunden. Es war in den ersten Gesprächen klar, dass hybrides und flexibles Arbeiten unabdingbar ist. Anne, die mit ihrer Familie in Frankreich lebt, weiß, was es braucht, damit sich junge Menschen für unsere Branche entscheiden. Und sie weiß vor allem, wie es gelingt, junge Frauen für den Vertrieb zu begeistern. Eine Aufgabe, die nicht nur unter dem Aspekt der demografischen Entwicklung zunehmend wichtig wird. Sie ist Mit-Initiatorin des Female Insurance Summit, der im Juni erstmals stattgefunden hat. „Bei uns kann jeder so arbeiten, wie es zu seinem Leben und den Kids passt. Es entfallen unnötige Fahrtzeiten und Staus, und wenn Du mal später anfängst, weil Dein Kind Dich noch 5 Minuten länger in der Kita oder Schule braucht, geht das eben vor! Das Schaffen individueller Arbeitsbedingungen ist eine große Chance des künftigen Arbeitsmarktes. Es muss ein in sich stimmiges Konzept sein, was alle Bereiche umfasst. Wenn uns das insgesamt gelingt, schaffen wir Harmonie im Berufsleben. Es bedarf kleiner Schritte für große Veränderungen. Deswegen freue ich mich sehr auf den zweiten Female Insurance Summit am 12. Juni 2024 in Düsseldorf.“

Pascale Ullmann:
Es besteht weiterer Handlungsbedarf im Innen- und aussendienst

Um mehr Frauen für den Vertrieb und weitere verantwortungsvolle Positionen zu gewinnen, darf die Branche Neuland betreten. „88% der befragten Unternehmen in unserer Studie geben an, Maßnahmen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf etabliert zu haben (4). Ein zentrales Fragezeichen bleibt jedoch: Inwiefern sind diese Entwicklungen und Maßnahmen auf den Außendienst übertragbar? Stellt der Außendienst ähnliche Anforderungen oder ergeben sich dort gänzlich neue Herausforderungen? Unabhängig von der Antwort auf diese Frage ist klar, dass in beiden Bereichen – sowohl im Innendienst als auch im Außendienst – weiterer Handlungsbedarf besteht.“

Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.

Auf dieser gemeinsamen Entwicklungsreise der digitalen und kulturellen Transformation geht es um neue Rahmenbedingungen und um innovative Arbeits(zeit)modelle für starke Führungspersönlichkeiten im Außen- und Innendienst. Und es geht darum zu verstehen, dass Karriereentscheidungen bei Frauen emotionale Entscheidungen sind!

Ruben Langwara
Wissenschaftler und Fachbuchautor

Roxanna Senft
Außendienstleiterin beim LVM

Dr. Monika Sebold-Bender
Multi-Aufsichtsrätin, u.a. bei Marco Group, Polygon, MS Amlin SE und Nürnberger Versicherungen, Geschäftsführerin der Deutschen Gesellschaft Club of Rome Projekt GmbH

Anne Balendonck
HR-Managerin für Recruiting und Personalentwicklung, STC-Gruppe

Pascale Ullmann
Versicherungsforen Leipzig, Projektreferentin Prozesse, Organisationsentwicklung und neue Geschäftsmodelle

1) GDV-Statistik 2022
2) www.vga-koeln.de/index.php?id=ak-frauen-und-fuehrung
3) https://soundcloud.com/vga-plattform-ao/vga-podcast-episode-4-nachwuchs-ao-vertrieb-gibt-es-den
4) https://soundcloud.com/vga-plattform-ao/vga-podcast-episode-3-frauen-in-der-ao
5) Studie „Diversität & inklusive Unternehmenskultur“ der Versicherungsforen Leipzig, 2023

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